„Liebe Alle!“
Diese Worte kannte ich vor einem Jahr nur aus dem Fernsehen. Während meiner Jugend habe ich die Spielshow „99 – Wer schlägt sie alle“ mit meiner Familie im Fernsehen geschaut. Am 14. November letzten Jahres hat meine Mutter einen Link für die Bewerbung der sechsten Staffel in die Familiengruppe geschickt. Wenige Minuten später schrieb ich: „Ich bewerbe mich mal [s]paßeshalber bei 99“. Der Anfang war eine gewöhnliche Umfrage zu mir als Person.
Etwa einen Monat später erhielt ich eine E-Mail mit zwei Bitten: Die erste Bitte war, ein Vorstellungsvideo zu senden. Dafür nahm ich mir etwas länger Zeit, da ich erpicht darauf war, das Video besonders kreativ und ungewöhnlich zu gestalten, sodass ich aus den vielen Bewerbern heraussteche. So kam ich während der Fahrradfahrten zu Schach-AGs auf die Ideen, die mich in den offiziellen Cast brachten: Vor meinem adhäsiven Demobrett, auf das ich neun Piktogramme malte, die mir halfen, mich an das zu erinnern, was ich erzählen wollte, stand ich mit meinem Tanzoberteil von der Lateinformation. Da ich in den Wochen davor auf Tanzturnieren war und das Oberteil bei mir lag, weil ich es waschen durfte, setzte ich es außerhalb des Parketts in Szene.
Bei der Regeleinweisung hat mir Jasmin verraten, dass sie mein Video tatsächlich sehr begeistert hat. Sie war Teil des dreiköpfigen Auswahlteams. Die zweite Bitte war die Bestätigung, während der Drehzeit voll dabei sein zu können. Hier kommt meine Einsatzstelle, also Kristin, ins Spiel. Da ich in meinem Freiwilligendienst 25 Tage Urlaubsanspruch habe, ging einiges an Urlaub auf die Drehzeit. Glücklicherweise überschnitt sich der anfangs geplante Drehzeitraum mit Ferien, weshalb Kristin ihr Okay gab.
Am Freitag, den 24.01 wurde ich um 15:26 Uhr von Verena angerufen, die mir die frohe Botschaft verkündete, dass ich im offiziellen Cast sei. Außerdem wurde ich informiert, dass der Drehzeitraum um eine Woche nach hinten verschoben wurde. Mich persönlich freute das, da ich somit ein weiteres Tanzturnier mittanzen durfte. Zugegebenermaßen war Kristin nicht gerade begeistert, da ich dementsprechend für mehr Tage als ohnehin geplant weder AGs noch das Jugendtraining abhalten konnte. Daher hatte ich die Aufgabe, für die Trainings im Verein und der Betreuung der Schach-AGs personellen Ersatz zu organisieren. Damit fing ich jedoch erst später an. Im Anschluss an das Telefonat ging ich ekstatisch ins Vorturnier und erzählte noch einigen Menschen persönlich von meinem kommenden Abenteuer.
In den nächsten Wochen wuchs die Vorfreude. Ich sah mir die fünfte Staffel an, sodass ich eine grobe Vorstellung davon hatte, was auf mich zukommen wird. Natürlich kannte ich die Show bereits von den ersten Staffeln, die fünfte hatte ich jedoch noch nicht gesehen. Die Hinfahrt erfolgte mit dem Zug am Tag nach dem besagten Tanzturnier in Bietigheim. Da ich dort, wie jeder andere Herr meines Teams, im Gesicht glatt rasiert auftrat, sah ich entsprechend jugendlich aus. Mit Bart werde ich in der Regel auf 23 plus minus 2 geschätzt. Doch mir war das recht – ich repräsentiere schließlich die Jüngsten und darf auch so auftreten. Als „Youngster“ bezeichnete mich Florian „Schmiso“ Schmidt-Sommerfeld, der Kommentator, auch im ersten Spiel – aber dazu gleich mehr.
Ich stieg am Zielbahnhof aus und sah bereits vor der Rolltreppe einige abenteuerlustige Gesichter. Auf meinen neugierigen Blick antwortete Fabrizia etwa: „Ja, wir sind auch bei der Show dabei“. Vom Bahnhof wurden wir in das Hotel gefahren. Wir bekamen unsere Zimmernummer an der Rezeption und – mein persönlicher Lieblingsmoment des Tages – die Namensschilder. Als ich die Namensschilder gesehen habe, wuchs meine Vorfreude ins Unermessliche.
Im Hotel gab es am Abend noch eine kleine Einweisung und das Team wurde vorgestellt. Im Hintergrund arbeiten am Set noch einige Menschen mit, z. B. das Team, das Interviews führt. Wir wurden in Doppelzimmerbetten untergebracht. Im Cast gab es exakt 50 Herren und 50 Damen.
Bereits vor dem ersten Drehtag bildeten sich während des Abendessens kleine Grüppchen, wobei das Alter meist der gemeinsame Nenner war. Ja, auch die Menschen im Fernsehen sind soziale Wesen. Ich lernte schon an diesem Tag Svenja kennen, die für die gesamte Drehzeit meine wichtigste Bezugsperson war. Svenja, falls du das liest: Schön, dass es dich gibt!
Nun zu den Abläufen: Die Tagesabläufe waren immer gleich. Wir sind morgens nach dem Frühstück mit dem Doppeldeckerbus zu der Halle gefahren, in der gedreht wurde. Ich habe während der ersten Tage gerne das Fitnessstudio im obersten Stock besucht und mich warmgetanzt. Da wir morgens unsere Handys abgeben mussten, haben wir uns während der Fahrt mit den anderen Kandidaten unterhalten. Das Handyverbot ist auch der Grund, warum während des Exit-Kreises, dem Verabschiedungsritual, immer einige Kandidaten zu der ausgeschiedenen Person gehen und sich ordentlich verabschieden: Es entstehen echte Begegnungen und man lernt sich in einem außergewöhnlichen Setting kennen. Vor allem der Verlust von Freunden ist während der Drehzeit brutal. Wer das nicht nachvollziehen kann: You have to be there! Ich zitiere Julien sinngemäß: „Es schweißt zusammen, wenn man gemeinsam leidet“. Wenn man nicht dabei war, kann man das Gefühl nicht nachempfinden, bei seinen engsten Mitmenschen das weiße Licht erlöschen zu sehen. So habe ich bei einem Essen Arleya, genannt Ary, kennengelernt. Sie war mit 18 Jahren und ca. drei Monaten sechs Monate jünger als ich und somit die jüngste Kandidatin. Wir repräsentierten also beide die Generation Z. Am nächsten Drehtag schied sie leider schon aus, was unglaublich traurig war. Dafür blieben noch Svenja und Natalia-Maria in meiner engsten Gruppe.
Zurück zu den Tagesabläufen: Es wurden pro Tag zwischen 5 und 8 Spiele gedreht. Gegen Mittag gab es eine warme Mahlzeit und in einem der beiden Aufenthaltsräume, dem „Green Room“ standen zu jeder Zeit Snacks und Getränke. Es gab außerdem einen Außenbereich, der in der Regel nur mit Jacke zu betreten war. Da im März in den Niederlanden in Küstennähe gedreht wurde, war es noch ein frischer Frühling in dem die salzhaltige Luft nur von dem Genuss der Raucher in der Nähe des Zeltes unterwandert wurde. Unser Trio, Svenja, Natalia-Maria und ich, gingen in der Wartezeit gerne draußen spazieren. Im Green Room war es vor allem zu Beginn sehr laut, da Lautstärke gruppendynamisch exponentiell steigt. Abends ging es mit den Bussen wieder zurück ins Hotel.
Die Spielabläufe waren ebenfalls ziemlich ähnlich. Wir wurden von unseren Betreuern, Verena, Mariele und Loschi, der übrigens mal Kandidat war, in den Gang gerufen. Dort standen wir meist noch einige Minuten, bis wir dann runter zum Set durften. Dort angekommen fanden wir uns auf den Plätzen ein, die wir stets selbst wählen durften. Auch bei Team- und Partnerspielen durften wir unsere Teampartner selbst wählen. Nach der intensiven Regelerklärung, meist einigen Rückfragen und manchmal langwierigen Diskussionen wählten wir einen „Spielplatz“. Es gab sehr unterschiedlichen Spiele: Wenn es ein Folgeneröffnungsspiel war, standen wir zumeist in einem Kreis um das Set, z. B. beim Eröffnungsspiel um den mit Luftballons gefüllten Pool. Bei stationären Spielen standen wir auf einem kleinen Kreis. Tischspiele gab es ebenfalls, da saßen wir nunja – an einem Tisch auf einem Stuhl. Bei Quizspielen standen wir zumeist in einer Linie und trafen unsere Entscheidungen blind. In Gruppenspielen standen wir in gleich große Gruppen aufgeteilt in Kästchen. Die einzige Regel der Spielshow: Nie der oder die Letzte zu sein.
Vor dem Spiel versuchte ich mich zumeist beruhigen und runterzukommen. Besonders bei den ersten Spielen war mir wichtig, meine Ruhe zu bewahren und konzentriert an die Spiele heranzutreten. Später wurde immer mehr eine Routine draus. Ein Interview zeigt sogar wie ich sitze, da ich zuvor noch meditierte. Durch meine Methoden fühlte ich mich vor jedem Spiel, zumindest während der ersten Drehtage, sehr wohl. Ich traf z. B. den Schlüssel beim ersten Versuch in die Schlüsselschüssel. Und beim Luftkatapult mit dem Tischtennisball blieb ich trotz der vielen gescheiterten Versuche nervenstark.
Nach einem bestandenen Spiel, was der Oberschiedsrichter Nisse und seine Marshalls mit einem Daumen hoch anzeigten, durften wir in die Safetyzone und die anderen anfeuern. Man kann sich diesen Zuschauerraum vorstellen wie die Rail bei Pokerturnieren.
Dann hat man sich, zumindest am Anfang gefragt: „Wer ist denn xy? Den Namen kannte ich gar nicht.“ Bei 100 Menschen erwischt es am Anfang einige Menschen mit denen man nichts zu tun hatte. Je weniger Spieler es gibt, desto höher war die Chance, um enge Freunde zu bangen. Natalia-Maria erwischte es kurz nachdem wir die Hälfte der Spiele geschafft hatten. Sie wurde 47te. Ich war zu dem Zeitpunkt am Set körperlich schwach und konnte gefühlt nicht mal richtig trauern. Der Grund: Am Vortag übergab ich mich am Set kurz vor dem letzten Spiel. Das Team hat sich sehr gut um mich gekümmert und ich konnte trotz des kurzen Ausfalls, der, wie mir versichert wurde, nicht ausgestrahlt werden sollte, weiterspielen. Den wievielten Platz ich am Ende erreicht habe, seht ihr entweder auf Joyn oder meinem dafür angelegte Instagram-Account: Leonhard_von_99. Was ich jedoch verraten kann ist, dass ich am Tag meiner Abreise noch gerade so den Abtanzball meiner ostfriesischen Freundesgruppe gecrasht habe und so einen angenehmen Übergang zurück in das echte Leben hatte.
Dennoch gab es in der „echten Welt“, also außerhalb von Halle und Hotel noch Events, bei denen ich gerne dabei gewesen wäre. Am 21.03 habe ich in den 171 WhatsApp-Nachrichten aus 10 Chats in einem gelesen, dass meine Kinder der Grundschule am Wasserturm mit dem zweiten Platz bei der Badischen Schulschachmeisterschaft für die Deutsche Schulschachmeisterschaft qualifiziert haben. Den Bericht zur DSM findet ihr hier und den für die Badische, die ich verpasst habe hier.
Auch in der Show gab einige persönliche Highlights für mich. Lieblingsmomente brachten unter Anderem die Partnerspiele hervor, die ich allesamt mit Svenja meisterte. Besonders als wir als eine der letzten Paare die Reisflasche gefüllt hatten und uns in die Arme fielen, war es für mich die größte Erleichterung, die ich bis zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben fühlten durfte. Mit Svenja, Natalia-Maria und Tiba habe ich mich kürzlich in Köln getroffen. Es war eine schöne Zeit und auf jeden Fall ungewohnt, die Bezugspersonen nicht im Green Room oder Hotel sondern in einer Großstadt zu treffen. Wir haben über die Drehzeit und Menschen geredet und ein paar Runden Skyjo gespielt.
Als ich wieder in Karlsruhe ankam, war ich um ein Abenteuer reicher. Die Woche begann für mich routiniert am Montag mit der Grundschule am Wasserturm, bei der ich den Jungs erstmal zu der tollen Leistung gratulierte, bei der ich nicht live dabei sein konnte. Und auch das Jugendtraining des Vereins übernahm ich wieder an diesem Montag. Es dauerte noch einige Monate, bis die Sendung auf Sat1 ausgestrahlt wurde. Nach der Ausstrahlung wurde ich bisher von einigen bekannten Menschen auf meinen Fernsehauftritt angesprochen. Es ist durchaus lustig, wenn ein damaliger Tennistrainer fragt, ob ich dieser Leonhard im Fernsehen sei. Doch auch mir unbekannte Menschen erkannten mich. Die erste Person war eine Lehrerin in der Würzburger Jugendherberge, die hinter mir in der Essenschlange beim Abschlussseminar stand. Danach sprach mich auf DAS FEST noch ein kleiner Junge mit seiner Mutter an, was ich mega niedlich fand. Und ein weiteres Mutter-Tochter-Paar sprach mich an. Die Chancen, erkannt zu werden steigen wohl, wenn man das Namensschild stolz auf der Brust trägt und auch erkannt werden will – hihi.
Zum Abschluss noch ein paar Learnings von mir:
- Wenn ihr euch bewerben wollt, zeigt, wen ihr repräsentiert, versucht aufzufallen und aus der Masse herauszustechen.
- Wie schon Max Raabe wusste: „Nichts ist so schön wie Fahrrad fahrn“. Man kommt, wenn man dem Kopf Freiheit gibt, auf tolle Ideen für das Vorstellungsvideo. Fahrrad fahren brachte in mir einige der kreativen Gedanken hervor. Besonders effektiv (und mit geringem Unfallrisiko verbunden) ist es, auf Routinewegen und durch Wälder zu fahren.
- Man lernt sehr viel über sich selbst und seinen Körper. Besonders, wie man auf intensiven Stress reagiert. Ich hatte anfangs trockene Haut auf der Hand und habe zum ersten Mal in meinem Leben bewusst zu Feuchtigkeitscreme gegriffen, was in den 18 dreiviertel Jahren vorher noch nie geschah
Fazit: Die Teilnahme an einer Fernsehshow ist auch während eines Bundesfreiwilligendienstes realistisch. Abhängig von der Kulanz eurer Einsatzstelle und der Länge der Drehzeit stehen euch sicherlich einige Möglichkeiten offen. Es ist und bleibt ein „Orientierungsjahr“ – macht einfach das Beste draus und nehmt alles mit, was euch zufällt. Manchmal fängt alles mit einer WhatsApp-Nachricht von Mama an.
Und wenn ihr jetzt Bock habt, euch auch zu bewerben – versucht es einfach. Die Bewerbungen für die siebte Staffel laufen bereits. An die Jungs von der Grundschule am Was. Viel Erfolg!